Analyse

Snapchat: Der Geist, der Facebook jagt

Buuh! © Snapchat, Facebook, Montage Lisa Weishäupl
Buuh! © Snapchat, Facebook, Montage Lisa Weishäupl
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„Van der Bellen, Van der Bellen!“, brüllen ein paar Jugendliche in die Kamera. Harter Schnitt. „Bin gerade am Weg ins Wahllokal, ihr solltet auch alle hin“, sagt eine junge Frau, während sie die Straße vor sich filmt. Harter Schnitt. „In der Wahlkabine“, schreibt ein Nutzer über das­ ­Videobild, das ihn beim Ankreuzen von Norbert Hofer zeigt.

So kann Snapchat in Österreich 2016 aussehen. Der Tag der Stichwahl zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer war das ­erste Mal, dass die aufstrebende Smartphone-App hierzulande eine sogenannte Live-Story zusammenstellte – einen wilden ­Zusammenschnitt über ein Ereignis aus kurzen, verwackelten Nutzervideos, den sich alle anderen Mitglieder im Land ansehen konnten. Einen Tag später war alles wieder weg, auf Nimmerwiedersehen gelöscht von den Servern der Firma von Gründer Evan Spiegel aus Los Angeles (die Server stehen übrigens bei Google in dessen Cloud Platform).

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Das Beispiel zeigt: Snapchat ist längst keine Messaging-App mehr, auf der sich hormongesteuerte Teens Schnappschüsse ihrer Genitalien zusenden. Snapchat ist vielmehr ein Angriff auf die zwei großen Silicon-Valley-Riesen YouTube und Facebook, eine Firma, die zum König der mobilen Videowelt werden will. Es sind mittlerweile mehr als 150 Millionen ­aktive Nutzer täglich, die snappen und chatten und bei der Gelegenheit insgesamt zehn Milliarden Mal pro Tag Videos abrufen. Zum Vergleich: Facebook zählte im ersten Geschäftsquartal 2016 etwa 1,1 Milliarden täglich aktive User und hielt im November 2015 bei acht Milliarden täglichen Videoabrufen (neuere Zahlen gab es bis Redaktionsschluss nicht). Snapchat-Gründer Evan Spiegel (26) geht es um zwei Dinge: Erstens will er jungen Smartphone-Nutzern, denen Facebook mit einem immer älteren Publikum langweilig und fremd wird, eine neue digitale Heimat bieten – und er will an die großen TV-Werbebudgets, ein Milliardengeschäft.

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Bilder, die verschwinden

Die Grundidee von Snapchat, mit dem Spiegel und seine ­Mitgründer Robert Murphy und Reggie Brown 2011 an der Universität Stanford im Silicon Valley an den Start gingen (die App hieß damals noch „Pictaboo“), ist immer noch das Fundament der App: Ephemeralität, also Vergänglichkeit. Anstatt wie Facebook, Twitter und Co. die Fotos und Videos der Nutzer auf ewig zu speichern, verschwinden Snaps wieder von den Servern. Nutzer können ein Foto oder ein maximal zehn Sekunden langes Video aufnehmen, es mit Emojis und Comic-­Stickern verzieren, mit dem Finger etwas darübermalen oder einen kurzen Text dazuschreiben, es dann mit einer Selbstzerstörungszeit versehen (maximal zehn Sekunden) und anschließend an die eigenen Snapchat-Kontakte senden. Die Empfänger dürfen den Inhalt dann so lange sehen, wie der Sender es erlaubt. Aber wehe, sie machen einen Screenshot. Dann ­bekommt der Sender eine Benachrichtigung und wird sich künftig hüten, Bilder oder Videos an den Screen­shot-Verräter zu schicken.

Doch von der intimen Zweierkommunikation (Snapchat wurde schnell für „Dick Pics“ berühmt, also Penisfotos) ­bewegt sich die App mit dem Geist im Logo immer mehr weg. In den sogenannten „Storys“ können Nutzer mittlerweile ihre Videos an alle Kontakte senden, zudem bleiben sie für 24 Stunden sichtbar. Und: Es sind nicht mehr nur Jugendliche, die Snapchat benutzen. In den USA ist die größte Nutzergruppe zwischen 18 und 24 Jahre alt, was zur Folge hat, dass US-Präsidentschaftskandidaten wie Hillary Clinton, Martin O’Malley, Rand Paul und Marco Rubio den hippen Kanal für sich entdeckten, um auf Wählerfang zu gehen. Anders als etwa die glatt gebügelte Bilderwelt von Instagram verspricht Snapchat Authentizität – und Spaß. In der gelben App darf man albern sein, sein Gesicht mit Filtern (vom Regenbogen kotzenden Pony bis zur Teufelsfratze ist vieles zu haben) verunstalten und die Fotos mit kindischen Emoticons verzieren – je schriller, desto besser. Dieser Spaßfaktor lässt selbst Facebooks Mark Zuckerberg etwas hilflos zurück. Nachdem der jüngere Spiegel sein Übernahmeangebot von drei Milliarden US-Dollar ablehnte, muss er jetzt immer mit neuen Produkten nachziehen – etwa, wenn es um Live-Videos oder lustige Gesichtsfilter geht.

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Eine teure Zielgruppe

„Snapchat ist das erste Social Network, das nativ auf dem und für das Smartphone konzipiert wurde, es musste nicht vom PC auf das Smartphone übersetzt werden. Wenn Twitter meine Presseagentur und Facebook mein Boulevard-Teil ist, dann ist Snapchat meine Daily Soap für unterwegs“, sagt der bekannte deutsche Journalist Richard Gutjahr, der sich auf Twitter und Face­book große Reichweite aufbaute, heute aber mit seinen witzigen Videos lieber bis zu 3.000 andere Snapchatter erreicht. „Es vereint die beiden Killer-Applikationen des Telefons: Fotos und Videos plus Messaging. Snapchat konkurriert nicht mit den Profi-Anwendungen, sondern feiert den Moment, das Vergängliche. Dadurch entsteht ein Gefühl von Nähe und Spontanität.“

Diese Nähe zu den vielen jungen Nutzern suchen viele Onlinemedien, die sich von der großen Reichweite Zugang zu einer Zielgruppe erhoffen, die sie anderswo nicht mehr erwischen. Direkt in der App, im Bereich „Discover“, bieten derzeit 16 Medienmarken (von CNN über BuzzFeed und Vice bis zu National Geographic) eigens aufbereitete, tagesaktuelle Inhalte (manchmal Text, oft ­Videos) kostenlos an. Und nein, nicht Snapchat zahlt für die unter­haltenden Inhalte, es ist sogar anders herum: Die Medien treten den Betreibern rund 30 Prozent der Werbeeinnahmen ab, die sie mit nativen Anzeigen machen. Waren die Medienhäuser anfangs begeistert von den Reichweiten, die sie bei Snapchat schafften, ist aber mittlerweile Ernüchterung eingetreten – immerhin beteiligen sie Spiegel nicht nur an den Werbeeinnahmen, sondern investieren in eigenes Personal, das den Content produziert. Um die Medienpartner, die viel Geld bringen, bei der Stange zu halten, sollen sie in einem Redesign der App prominenter ­platziert werden.

Videowerbung im Visier

Dass Snapchat, das geleakten Dokumenten zufolge 2015 lediglich 59 Millionen US-Dollar Umsatz machte, einmal eine Cashcow sein wird, daran glauben zumindest die Investoren. In einer neuen Finanzierungsrunde schossen Geldgeber insgesamt 1,8 Milliarden US-Dollar zu und steigerten die Firmenbewertung auf etwa 20 Milliarden US-Dollar. In Aussicht wird ihnen unter anderem gestellt, dass die App dieses Jahr ihren Umsatz auf 300 Millionen US-Dollar verfünffachen soll (zum Vergleich: Die Facebook-­Tochter Instagram, so Analysten, soll dieses Jahr 2,8 Milliarden US-Dollar Umsatz lukrieren). Das Vehikel dazu: Videowerbung. Die Firma mit Sitz im sonnigen Venice Beach propagiert bei ­Werbern das „3V“-Prinzip: Vertical, Video, Views. Weil Snapchat-­Videos nicht im Quer-, sondern im Hochformat gezeigt werden, sollen Nutzer die Clips weniger oft abbrechen, außerdem verspricht man Werbern hundert Prozent Sichtbarkeit. Die Preise sind ebenfalls sehr selbstbewusst: 40 US-Dollar werden im Schnitt für 1.000 Abrufe verlangt.

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„Marken können dort so nah an potenzielle Kunden rücken wie nirgendwo sonst. Für manche Zielgruppen, die man mit Fernsehen, Radio oder Print sowieso nicht mehr erreicht, ist Snapchat sogar nahezu alternativlos“, sagt Richard Gutjahr. Auch in Österreich, wo 52 Prozent der Elf- bis 17-Jährigen sagen, dass sie ­Nutzer sind, sind 2016 die ersten Kampagnen angerollt. Unter anderem versuchen Absolut Vodka und McDonald’s ihr Glück, mit unterhaltendem Content in der App zu punkten. Wie effektiv die ersten werblichen Gehversuche sind, bleibt abzuwarten.

Einfach ist das Werbegeschäft auf Snapchat nicht. Man müsse sich auf jeden Fall einmal von den „alten Prinzipien verabschieden“, sagt Sabine Hoffmann, Geschäftsführerin der Wiener Social-­Media-Agentur ambuzzador. „Bisher werden keinerlei Tools angeboten, die den Return on Investment in irgendeiner Form sichtbar machen. Nicht mal die Follower-Zahlen lassen sich einsehen“, so Hoffmann weiter. Auch bietet die App keinerlei Möglichkeiten, die Nutzer über Links etwa in einen mobilen Onlineshop weiterzuleiten. Ein weiteres Problem: Da Gründer Spiegel seinen Nutzern ein hohes Maß an digitaler Privatsphäre bieten will, werden kaum Daten erhoben. Wer will, kann den echten Namen verwenden und sein Geburtsdatum angeben, aber anders als Facebook weiß Snapchat wenig bis gar nichts über demografische Eigen­heiten und Interessen seiner Nutzerschaft. „Auch wenn Werbung auf Snapchat möglich ist und man das nötige Werbebudget hat, sollte man auch hier nicht allein auf bezahlte Aufmerksamkeit ­setzen“, sagt Hoffmann. Wichtig sei, sich mithilfe bestehender Social-­Media-Kanäle sein eigenes Publikum aufzubauen und es mit kreativen, mutigen und authentischen Inhalten zu versorgen.

Facebook besiegen?

Ob der Hype, der 2016 auch nach Mitteleuropa geschwappt ist, dem Phänomen Snapchat gerecht wird, ist aktuell Gegenstand vieler Debatten. Während die einen ein MySpace-Schicksal voraussagen, sehen andere Spiegels Geister-App als den künftigen großen Gegner von Facebook. „Snapchat ist gekommen, um zu bleiben“, glaubt Hoffmann. „Es ist mehr als nur eine Spielerei oder ein vorübergehendes Phänomen, sondern Wegbereiter einer neuen Form von Kommunikation – auch für Marken.“ Auch ­Gutjahr sieht Potenzial: „Wie lange der Snapchat-Stern leuchtet, kann keiner wissen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Snapchat den Platzhirschen Twitter und Facebook noch gefährlich auf die Pelle rückt“, sagt der experimentierfreudige Journalist. „Es fühlt sich an wie seinerzeit bei Facebook oder Twitter. Keiner weiß, was mal draus wird.“

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